Wenn Staaten im Zuge der Corona-Pandemie ihren Luftraum schlossen oder die EU ihre Binnengrenzen dichtmachte, griffen sie auf Ausnahmebestimmungen im Völkerrecht zurück. Diese erlauben, in besonderen Situationen – etwa aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der Gesundheit – von Vereinbarungen abzuweichen. Das gilt auch für Bestimmungen der Europäischen und UN-Menschenrechtskonvention. Jedoch darf dies nur nach sorgfältiger Abwägung geschehen. „Staaten sind verpflichtet zu überprüfen, ob die getroffenen Entscheidungen verhältnismäßig sind und man das Ziel nicht auch mit anderen Maßnahmen erreichen könnte“, betont Erika De Wet, Professorin am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Graz. In diesem Sinne fordert die Juristin eine offene und kritische Diskussion auch der Maßnahmen der Österreichischen Bundesregierung in der Corona-Krise.
In einigen europäischen Staaten wurden von der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehene Rechte teilweise außer Kraft gesetzt, wie zum Beispiel in Ungarn. „In Österreich war dies nicht der Fall“, sagt De Wet. Dennoch sieht die Völkerrechtsexpertin auch hierzulande kritische Aspekte, die es zu hinterfragen gelte, wie etwa die Wahrung des Rechts auf Gesundheit für alle BürgerInnen.
Artikel 12 des UN-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gewährt ein umfassendes Recht auf körperliche und geistige Gesundheit. Dieser Pakt ist auch für Österreich verbindlich. „Zwar ist dieses Recht kein absolutes, was bedeutet, dass es mit anderen Rechten abgewogen werden muss, trotzdem finde ich es problematisch, wie in der Corona-Krise in Österreich und anderen Staaten damit umgegangen wurde“, meint die Juristin. „Denn es steht allen Kranken zu, wurde aber in den letzten Monaten praktisch auf Covid-19-PatientInnen reduziert.“ Andere mussten auf Operationen und Therapien warten. Ganz zu schweigen von jenen Menschen, die besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt waren.
„Man muss die Frage stellen, ob es berechtigt war, alles dem Virus unterzuordnen“, betont De Wet. Das gelte übrigens auch in Hinblick auf die wirtschaftlichen Kollateralschäden. „Waren die staatlichen Maßnahmen tatsächlich alternativlos, so wie es vermittelt wurde? Darüber müssen wir uns in den nächsten Monaten sehr genau Gedanken machen“, fordert die Juristin.
Kritische Auseinandersetzung
Auch die Medien nimmt die Expertin in die Pflicht. „Durch die Europäische Menschenrechtskonvention ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen dazu verpflichtet, eine offene Diskussion zu fördern. Die gab es in Europa zu wenig. Es fehlte mir eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit den Maßnahmen der Regierungen. Auch der ORF macht da keine Ausnahme.“
Europaweit seien Einflussnahmen der Regierungen auf die Berichterstattung in öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zu beobachten gewesen sein. „Auch das widerspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention. Man muss seriöse Kritik anbringen können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.“
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