In einem gesunden Körper werden täglich Millionen neuer Zellen produziert, um die alten zu ersetzen. Verantwortlich dafür sind die sogenannten Stammzellen, indem sie sich teilen. Einige ihrer Nachkommen übernehmen bestimmte Funktionen im Gewebe, andere gewährleisten wiederum als Stammzellen die kontinuierliche Erneuerung. Besonders schnell läuft dieser Prozess im Darm ab. Sein Epithel, die hauchdünne Zellschicht, die die Darmwand bedeckt, erneuert sich alle vier bis sieben Tage. Ist dieser Vorgang gestört, kann das zu schweren Krankheiten wie etwa Krebs führen. Voraussetzung für mögliche Therapieansätze ist, genau zu verstehen, wie der Erneuerungsprozess funktioniert. Ein Team von WissenschafterInnen europäischer Universitäten und Forschungszentren mit Beteiligung der Uni Graz hat nun einen bislang unbekannten Mechanismus der Stammzellenregulation im Darm entdeckt, der im renommierten Wissenschaftsjournal Nature publiziert wurde.
Nur wenige machen das Rennen
Stammzellen lassen sich normalerweise an ihrem genetischen Profil und ihren biochemischen Eigenschaften erkennen. „Bei unseren Forschungen haben wir entdeckt, dass es im Darm viele Zellen gibt, die aufgrund dieser Charakteristika das Potenzial hätten, als Stammzellen zu funktionieren. Gleichzeitig aber konnten wir beobachten, dass nur wenige von ihnen tatsächlich diese Aufgabe erfüllen und den Erneuerungsprozess vorantreiben. Der Rest geht verloren“, berichtet Bernat Corominas Murtra vom Institut für Biologie der Universität Graz, einer der ErstautorInnen der aktuellen Studie. Dabei konnten die WissenschafterInnen Unterschiede zwischen Dünn- und Dickdarm feststellen: „Zwar wird in beiden Abschnitten ungefähr die gleiche Zahl potenzieller Stammzellen produziert, im Dickdarm gehen aber viel mehr verloren als im Dünndarm“, ergänzt der Forscher.
Bewegung macht den Unterschied
Hinzu komme, dass sich die potenziellen Stammzellen je nach Abschnitt unterschiedlich bewegen. „Während sie im Dünndarm scheinbar chaotisch vor und zurück wandern, läuft der Prozess im Dickdarm vergleichsweise geordnet ab“, so Corominas Murtra. Verantwortlich für die jeweiligen Bewegungsmuster ist ein biochemisches Signal, das im Dünndarm viel häufiger vorkommt, fanden die AutorInnen der Studie heraus.
Um die Frage zu beantworten, welche Faktoren die Stammzellenregulation beeinflussen, wurde der gesamte Prozess mit Methoden der mathematischen Modellierung am Computer simuliert. Dabei entdeckten die ForscherInnen einen bislang unbekannten Mechanismus: „Aus dem Bewegungsmuster in Kombination mit der Form des Organs lässt sich vorhersagen, welche Zellen verloren gehen und welche bzw. wie viele als effektive Stammzellen übrigbleiben“, fasst Corominas Murtra zusammen. Damit wurde erstmals nachgewiesen, dass die Funktion von Stammzellen nicht nur von deren genetischem Profil, sondern auch von der Dynamik des gesamten Gewebes abhängig ist.
Diese Erkenntnisse eröffnen neue Einblicke in mögliche Ursachen für Fehlfunktionen in einem der Schlüsselorgane unseres Körpers und liefern Grundlagen für die weitere Erforschung innovativer Therapieansätze.
Bernat Corominas-Murtra ist seit 2021 Professor für Komplexitätsforschung in Adaptiven Systemen im Profilbereich COLIBRI (Complexity of LIfe in Basic Research and Innovation) der Universität Graz.
Publikation
Retrograde movements determine effective stem cell numbers in the intestine
M. Azkanaz, B. Corominas-Murtra et al.
Nature, DOI: 10.1038/s41586-022-04962-0