Schuhsohlen, Knöpfe und Zahnbürsten: Es sind erschütternde Funde, die erst jüngst das Massaker an ungarischen Jüdinnen und Juden im Lager Graz-Liebenau wieder ins Bewusstsein gerückt haben. Vergessen ist jedoch der Prozess gegen das damalige Lagerpersonal. Zwei der vier Angeklagten wurden zum Tode verurteilt. 75 Jahre danach setzt sich am 10. Oktober 2022 eine Konferenz an der Universität Graz mit dem Gerichtsverfahren auseinander. Neben renommierten WissenschafterInnen kommen erstmals Nachkommen der Täter zu Wort.
„Der Holocaust fand auch vor unserer Haustür statt“, erinnert Zeithistorikerin Barbara Stelzl-Marx an die grausamen NS-Verbrechen in der Steiermark. Zehntausende ungarische Jüdinnen und Juden wurden im April 1945 vor der aus dem Osten vorrückenden Roten Armee „evakuiert“. Viele überlebten diese Todesmärsche nicht – aufgrund von Erschöpfung, mangelnder Versorgung oder weil sie erschossen wurden. In Rechnitz, am Präbichlpass bei Eisenerz, aber auch im Lager Liebenau kam es zu Massenerschießungen. Im Herbst 1947 wurden diese Endphaseverbrechen in Liebenau vor das Militärgericht der britischen Besatzungsmacht in Graz gebracht. Der sogenannte „Liebenauer Prozess“ endete nach fünf Tagen mit zwei Todesurteilen, einer Haftstrafe und einem Freispruch.
Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Uni Graz: „Der Liebenauer Prozess erregte 1947 große Aufmerksamkeit, danach geriet das Thema für viele Jahrzehnte in Vergessenheit.“ Es sei, so die Historikerin, im wortwörtlichen Sinn Gras über das Lager, die verübten Verbrechen, aber auch über die Spuren der Opfer gewachsen. „Es stellt sich etwa die Frage, wie aus liebevollen Familienvätern Täter werden konnten? Wie die Vergehen geahndet wurden und welche Formen der Erinnerungskultur sich etablierten?“
75 Jahre später beschäftigt die Auseinandersetzung nicht nur die Wissenschaft. Auch die nachfolgenden Generationen von Opfern und Tätern. Diesen Aspekt beleuchtet die Tagung. Barbara Stelzl-Marx: „Erstmals sprechen Nachkommen von zum Tode verurteilten Tätern über die Auseinandersetzung im Familiengedächtnis und die Bedeutung für ihre Biografie.“
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